Prof. Dr. Hannes Bezzel
Prof. Bezzel ist Dozent im Fach Altes Testament im Kirchlichen Fernunterricht. Er wird zum Symposium "Evangelische Theologie für das Ehrenamt" zum Gespräch über die Bedeutung des Alten Testaments für die heutige christliche Verkündigung anregen. Hier können Sie schon einmal in die Fragestellungen hineinlesen.
Welche Bedeutung hat das Alte Testament für die christliche Verkündigung in der Gegenwart?
Vor nunmehr fünf Jahren wurde in Kirche, Theologie und Feuilleton eine erbitterte Debatte über den Stellenwert des Alten Testaments geführt, die sich an einigen Thesen des Berliner systematischen Theologen Notger Slenczka entzündete. Zu dieser, damals nicht immer mit fairen argumentativen Mitteln geführten, Auseinandersetzung ist eigentlich alles gesagt. Kirchlicherseits denkt – hoffentlich – gegenwärtig niemand daran, das Alte Testament „abzuschaffen“ – was auch Slenczka nie gefordert hatte –, und die seit dem Ersten Advent 2018 gebräuchliche Perikopenordnung zeichnet sich unter anderem dadurch aus, dass sie in einem höheren Anteil als früher Stücke aus dem Alten Testament als Predigttexte aufführt.
Trotzdem ist es, vielleicht gerade aus dem Abstand eines halben Jahrzehnts heraus, nachdem sich der Pulverdampf der Polemik gelegt hat, sinnvoll, sich mit Blick auf Slenczkas damalige Anfragen und die eigene Praxis die Titelfrage zu stellen.
Die Praxis zeichnet sich zunächst dadurch aus, dass nie „das Alte Testament“ gepredigt wird, sondern ein mehr oder weniger kurzer, mehr oder weniger zusammenhängender Abschnitt als Predigttext vorliegt – ein Aspekt, der die „Predigt des Neuen Testaments“ natürlich ebenfalls betrifft, wenn auch quantitativ in anderem Verhältnis. Das heißt, es ist – in beiden Fällen, AT wie NT – eine de facto-Vorauswahl getroffen, die so etwas wie einen Kanon innerhalb des Kanons definiert. Ist diese Priorisierung innerhalb des Kanons legitim – oder gar unausweichlich – oder widerspricht sie einem gleichberechtigten Anspruch an „Normativität“ (einer der eher unglücklichen Begriffe in der Slenczka-Debatte), der aus dem Charakter der Bibel als Heiliger Schrift resultiert?
Wenn das Vorgehen als solches akzeptiert wird – was sind dann die Kriterien, die eine entsprechende Auswahl leiten? Es ist davon auszugehen, dass als Grundlage für die Predigt im christlichen Gottesdienst Perikopen ausgewählt wurden und werden, denen „Bedeutung“ für diesen Kontext zugemessen wird. Das heißt, das Alte Testament wird, wie es bereits der Begriff im Unterschied zur Bezeichnung Hebräische Bibel verdeutlicht, als Teil der einen christlichen Heiligen Schrift verstanden und aus christlicher Perspektive, wenn man so will: vom Neuen Testament her, gelesen.
Diese hermeneutische Grundkonstellation bedeutet freilich nicht, dass das Alte Testament umgekehrt auf Christus und das Neue Testament hin gelesen werden müsse, in welchem unglücklichen Antagonismus oder zweipoligen Beziehungsfeld auch immer („Gesetz-Evangelium“, „Verheißung-Erfüllung“ o.ä.).
Stattdessen ist eine axiomatische Erkenntnis aus der historischen Setzung des Begriffs „Bibel“, als eines Korpus aus zwei Korpora, für die christliche Predigt des Alten Testaments fundamental: Neues Testament und Altes Testament dokumentieren in ihren vielfältigen Schriften menschliche Erfahrung mit dem gleichen, da einen, Gott. Die – besondere – Bedeutung des Alten Testaments in der christlichen Verkündigung liegt nicht nur darin, dass und wie Aspekte dieser Erfahrung, die im Neuen Testament zentral sind, wie Gottes Gnade und Barmherzigkeit, Vergebung von Sünde und Nächstenliebe, bereits hier gedacht und formuliert werden. Die Bedeutung des Alten Testaments liegt vielmehr auch und besonders darin, dass und wie Aspekte menschlicher Existenz sub specie Dei behandelt werden, die in den neutestamentlichen Schriften eine eher nachgeordnete Rolle spielen: Schöpfungstheologie, Theologie des Politischen, Sinnlichkeit, individuelle und kollektive Klage vor und Anklage gegen Gott, die Theodizeefrage etc.
Hier und in anderen Bereichen bietet das Alte Testament einen Schatz an Symbolen an, die in der Verkündigung in Korrelation mit den aktuellen Fragen der hörenden Gemeindemitglieder transparent zu werden vermögen für die Erfahrung der Gegenwart des einen Gottes.